Materialien
Anschlag auf Fabrikdirektor nach Massenkündigungen
September 1970 – Flugblatt der Aktionsgruppe Neukölln


Am 26. August 1970 verübte die Schwarze Front Tupamaro einen Sprengstoffanschlag auf das Haus des Direktors von Linhoff und auf dessen PKW. Ein paar Tage später verteilte die Aktionsgruppe Neukölln das folgende Flugblatt. Der Text wurde später in der Agit 883 Nummer 66 vom September 1970 abgedruckt.


In Westberlin sind Bomben nötig um die Presse auf eine hundsgemeine Massenentlassung von 330 Arbeitern und Angestellten aufmerksam zu machen.

Die Bombe galt einem Fabrikdirektor, der – genau wie seine Banken, der Senat und sämtliche Parteien – von der drohenden Pleite seit dem Juni 1970 sehr gut wusste. Aber sie galt nicht nur ihm (dazu ist er ein viel zu kleines Würstchen), sie galt dem System, dessen Verlogenheit und Brutalität den Entlassenen jetzt klar vor Augen steht. Ein Arbeiter: „Die Unternehmer sind wie Aasgeier“ und „ein Jahr geschuftet, und jetzt 800 DM Urlaubsgeld vorenthalten“.

Diese Bombe galt dem Unternehmer, der mit dafür verantwortlich war, dass hunderte von einem Tag auf den anderen arbeitslos werden, ihr Urlaubsgeld verlieren, viel weitere Anfahrtswege zum nächsten Arbeitsplatz haben, oder – wenn sie älter sind – überhaupt keine oder nur sehr schwer Arbeit bekommen. In Westberlin sind Bomben nötig, die Presse darauf aufmerksam zu machen, dass die Amerikaner in Kambodscha und Vietnam Massaker veranstalten, dass unsere Polizei auf Demonstrationen Frauen und Kinder prügelt, dass ein Mann wie Dallwitz von der Politischen Polizei in eine Menschenmenge schießen und dabei drei Menschen verletzten kann, ohne dass er bis heute vor ein Gericht gestellt worden ist, dass Polizei und Justiz Unschuldige einkerkern, dass die Springerpresse gegen unliebsame Gruppen hetzt und lügt, dass sich vor allen Dingen amerikanische Firmen in Westberlin durch ungeheuer hohe Subventionen aus Steuermitteln goldene Nasen verdienen und Großbanken (auch durch das 624-Mark-Gesetzt ) immer fetter werden. Dieselben Banken, die jetzt bei Linnhoff ihre Kuckucks auf nagelneue Maschinen kleben, um ihren Anteil an der Konkursmasse zu sichern, während die Arbeiter, die an diesen Maschinen bis zum letzten Tag Überstunden kloppten, leer ausgehen.

Diese Bombe hat ein Verbrechen an der arbeitenden Bevölkerung öffentlich gemacht. In den Betrieben Kämper, Stock, Dellschau, AEG-Turbinen, Pintsch-Bamag, Borsig, Diwag wurden Arbeiter entlassen, teilweise die Betriebe zusammengelegt; das alles ohne Rücksicht auf die Betroffenen. Und jedes Mal brachten die Bosse ihr Schäfchen ins Trockene, und jedes Mal arbeitete der Senat mit den Betrieben zusammen, subventionierte, schmierte, log und schwieg. Warum geschah hier nichts?


Muss man sich alles gefallen lassen?

Geht es uns wirklich so gut, wie man es uns einredet und wie wir es schon manchmal selber glauben, wenn von einem Tag auf den anderen solche Sauereien wie bei Linnhoff passieren können? In Frankreich und Italien hat die arbeitende Bevölkerung seit längerer Zeit durchschaut, was mit ihr gespielt wird und Konsequenzen daraus gezogen:
Sie besetzten ihre Arbeitsstätten, sperrten die „leitenden Herren“ in den Verwaltungsgebäuden ein, stellten die Geschwindigkeit der Fließbänder auf ein menschliches Maß zurück und bewiesen durch ihre Arbeit, dass sie auch ohne Bonzen auskamen und die Produktion besser und humaner bewerkstelligten,
  • Sie besetzten die U-Bahn und fuhren ohne Fahrkarte, weil sie zu Recht meinen, dass der Weg zur Arbeit zur Arbeitszeit gehört und gefälligst von den Fabrikherren bezahlt werden muss, sie sperrten ihre Bosse in ihren Büros ein und ließen sie dort solang hungern, bis sie bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne bekamen,
  • zusammen mit Studenten und Schüler kämpften sie im Pariser Mai auf den Barrikaden und schickten nach einer Volksabstimmung dem Arbeiterfeind de Gaulle in die Wüste,
  • zusammen mit Studenten und Schülern demonstrieren die Arbeiter machtvoll gegen steigende Mieten und Lebenshaltungskosten und kämpfen, wenn es sein muss, auch gegen die Riesenstreitmächte der Polizei, die dies auf Wunsch von Regierung und Unternehmern schützen,
  • sie lassen sich nicht mehr als „Partner“ verschaukeln und wissen inzwischen ganz genau, dass Unternehmer und arbeitende Menschen nicht „in einem Boot sitzen“.

Lernen wir von den Kämpfen der Arbeiter

Frankreich und Italien – dann wird es schwerlich wieder Entlassungen geben wie jetzt bei Linnhoff. Dann braucht wir es uns nicht mehr gefallen zu lassen, dass die Wagen der Bonzen immer größer und unsere Sozialwohnungen immer kleiner und teurer werden, dann brauchen wir nicht mehr zu dulden, dass Schlösser wie das Bellevue nahezu das ganze Jahr über leer stehen und die Altersheime und Obdachlosenasyle immer überfüllter werden.

Lernen wir von den Kämpfen der arbeitenden Bevölkerung in Frankreich und Italien.

Dann brauchen wir alle keine Bomben mehr um auf himmelschreiende Missstände hinzuweisen!

Wehrt Euch! Beginnt den Kampf im Büro, in der Lehrlingswerkstatt, in den Fabriken! Habt Mut zu kämpfen, habt Mut zu siegen!


Aktionsgruppe Neukölln