Materialien
Zur Geschichte der Bewegung 2. Juni
Oktober 1980 – Referat von Wernfried Reimers


Als ich aufgefordert wurde, was zur Geschichte der „Bewegung, 2. Juni“ zu erzählen, erschien mir das nicht besonders schwierig – aber je mehr Papier ich dazu gelesen habe und je länger ich am Kugelschreiber gekaut habe, desto deutlicher ist mir geworden, dass es so was wie eine Geschichtsschreibung der Bewegung nicht gibt; es gibt allenfalls verstreute Kommandoerklärungen einiger Gruppen über Aktionen – oder Artikel der bürgerlichen Presse. Außerdem ist die „Bewegung 2. Juni“ nicht eine historische Phase oder so was, kein endgültig abgeschlossener Prozess, sondern eine immer noch lebendige Bewegung, deren Spuren sich in allen Basisbewegungen finden: in der Frauenbewegung, genau wie in der Anti-AKW-Bewegung, Basisbewegungen, die unabhängig voneinander und unabhängig auch von ihren „Vorläufern“, zu denselben Inhalten und Kampfformen gekommen sind wie der „2. Juni“.

Keine Geschichtsschreibung also, das heißt: es gibt keine wechselnde Vorsitzenden, an deren Wahl oder Sturz sich Jahreszahlen festmachen lassen, es gibt keine verbindlichen Vorstandsbeschlüsse über die politische Linie, keine Säuberungswellen, keinen Kassenwart und niemand, der speziell für die Kalaschnikow-Ausgabe zuständig wäre, stattdessen lässt sich eine politische Linie über alle die Jahre hinweg verfolgen, wenn wir uns die Aktionen der Bewegung ansehen: es sind immer fast Aktionen, die von der eigenen direkten Betroffenheit ausgehen und sich als Widerstandsaktionen sozusagen „von selbst“ vermitteln, weil sie nur das ausdrücken, was viele gerne machen würden, aber noch nicht tun.

Die Genossen sagen heute dazu, das „der Unterschied zwischen Terrorismus, der undifferenziert jeden treffen kann, und revolutionärem Kampf der ist, dass eine revolutionäre Aktion sowohl in Stoßrichtung als in der Art der Durchführung eindeutig ist, – gezielt gegen den Klassenfeind und seine Handlanger – und den Bullen keine billigen Argumente liefert“. Das ist kennzeichnend von Anfang an, das sich die Aktion nie gegen das Volk richten, dass sie aber auch nicht so einen „belehrenden Charakter“ haben nach dem Motto: die Avantgarde zeigt der Bewusstseinsverkrüppelten Masse mal, wo‘s politisch/militärisch längs geht -sondern dass hier Teile des Volkes angefangen haben, sich für ihre Sachen entschieden einzusetzen, die sie für richtig und Erfolg versprechend halten. Welche Mittel das sind, wird jeder selbst zu entscheiden haben. Das können die Schläge für die Kölner Verfassungsschützer sein, die sie 1972 bezogen, als ihnen ein Kommando vor ihrer Stammkneipe auflauerte – das kann aber auch eine Broschüre über die Praktiken von Staats- und Verfassungsschutz am Beispiel – sagen wir mal – in Hamburg sein ... das kann im Einziehen von Revolutionssteuern bestehen, wie 1969 bei zwei Restaurants der Drei-Sterne-Kategorie einer westdeutschen Großstadt – das kann auch die freundliche Bitte einer Landesregierung an ihre Regierten sein, wie jüngst in Bremen oder Niedersachsen, doch zukünftig ein wenig Atommüll zu Hause zu lagern, weil kleine Mengen bekanntlich weniger gefährlich sind. Kurz: es gibt keine Vorschriften, keine Befehle, wie es in einem Papier einer anderen westdeutschen Guerillagruppe heißt – ihr Name ist mir leider entfallen. Diese Gruppe legt Wert darauf, dass Aktionen unterhalb eines bestimmten militärischen Niveaus nicht mehr unter ihrem Markenzeichen zustande kommen dürften. Der „Bewegung 2. Juni“ dagegen gehören alle an, die sich ihr zugehörig fühlen. Das sind nicht wenige. Es sind nicht wenige, weil die „Bewegung 2. Juni“ nicht so entstanden ist, das sich einige Denker zusammengehockt haben, und die Gründung der bundesrepublikanischen Guerilla beschlossen haben, sondern die Entwicklung zu militanten Widerstandskernen entstand überall in der BRD innerhalb der Jugendbewegung nach 1966 – und aufgrund ihrer Zusammensetzung und ihres in erster Linie antiautoritären Inhalts konnte sich in diesem Gemisch aus Arbeitern, abgebrochenen Schülern und Studenten, Lehrlingen usw. auch nie so was wie eine Führung entwickeln, kein Politbüro.

Für Berlin gibt ein Teil der „Bewegung 2. Juni“ die Entstehung so wieder (Zitat aus: „Zu der angeblichen Auflösung der Bewegung 2. Juni“). So weit Berlin. In Hamburg entwickelte sich – wie in vielen anderen Städten auch – zur gleichen Zeit ähnliches. Ich war dabei und vielleicht schaffe ich das ja, die Verbindung klar zu machen, die zwischen dem Sturm auf das PAN AM-Büro 1980 und dem Sturm auf das PAN AM-Büro 1968 bestehen, denn schon 1968 wurden im Verlauf einer antiimperialistischen Demo neben portugiesischen und griechischen, auch amerikanische Einrichtungen zustört.

Als die Studenten 1966 immer öfter auf die Straße gingen und als immer mehr langhaarige Freaks in der Innenstadt auftauchten wurde was ganz Neues eingeführt: man redete plötzlich zusammen. Das ganze Klima, die Atmosphäre änderte sich, politisierte sich. Überall in der City standen Gruppen von Leuten rum und diskutierten.

Vorher war es so, dass keiner mit dem Anderen zu tun hatte. Ob das nun ne speziell Hamburger Erscheinung ist, weiß ist nicht. Jedenfalls wurde erst nur geredet bzw. sich gegenseitig beschimpft, und dann wurden die Gespräche bestimmt von den politischen Aktionen und Diskussionen der Studenten.

Wer aus seinem Altagsmuff raus wollte, traf sich automatisch, immer wieder an bekannten Orten:

Am Alsterhaus, am Mönckebrunnen oder – vom Senat schnell errichtet, um die Politik wieder aus der Stadt ins Ghetto zu holen – auf der „Mackerweide“, dem Platz vor dem Bahnhof Dammtor, wo Perverserweise auf Schildern stand, dass hier jeder sagen kann, was er will.

Dort, im RC, auf dem Campus, beziehungsweise im Keller des SDS traf man, mit denen man dann bei Demonstrationen gemeinsam einen in die Fresse kriegte, beziehungsweise mit denen man gemeinsam zurückschlug oder -warf. Diese Gemeinsamkeit in der Aktion führte irgendwie zwangsläufig dazu, dass sich so langsam so was wie Kollektive bildeten, die dann auch nicht mehr nur zu irgendwelchen Teach-Ins oder Demos kamen, sondern auch sonst zusammen hingen, im Alltag, und der Alltag war eben oft anders als der der Studenten, die der Anziehungs- oder Orientierungspunkt waren. Das was bei Zigarettenreklame „Geschmack von Freiheit und Abebteuer“ heißt, haben wir bei vielem, was „die von der Uni“ gesagt und getan haben, wieder gefunden; sie haben uns einen genaueren Begriff von dem gegeben, wie es mal für uns alle sein könnte ...

Und diese völlige Veränderung des alten Daseins, das Zerschlagen der bisher hingenommenen Autoritäten des Alltags, das man also erlebt, wie man selbst Teil einer Bewegung von vielen ist, die ein greifbar nahes und besseres Ziel zu haben scheint, dass man einen Vorschuss auf das nimmt und auch jetzt schon mal lebt – diese völlige Veränderung hat ganz sicher bei allen, die diese Phase mitgemacht haben – und sie nicht nur betrachtet haben – ihre Spuren hinterlassen.

Viele von uns sind deshalb noch nicht ausgeflippt ins Bürgerdasein oder sonst wohin, weil wir wissen, wofür wir hier eigentlich kämpfen. Wir haben das Licht am Ende des Tunnels gesehen und haben deshalb eine Ahnung von dem, wie es sein könnte – wenn die Schweine nicht wären.

Dass es sie gibt, die Schweine, und das man nicht gegen sie ankommt, wenn man sich nicht organisiert, dass man nicht gegen sie ankommt, wenn man sich an ihre Spielregeln hält, war 1967 die Schlussfolgerung aus den Erfahrungen vieler Genossinnen und Genossen bei ihren Auseinandersetzungen mit dem Apparat des Staates. Die Konsequenz war die Bildung von kämpfenden Kollektiven, die sich nicht nur bei Aktionen trafen, sondern zusammen lebten und kleine oder große, bewaffnete oder unbewaffnete Aktionen planten und durchführten.

Ein Beispiel für die Kontinuität dieser Kampfform und ihres Inhalts ist die von vielen vergessene Aktion einer Hamburger Gruppe gegen eine portugiesische Fregatte – Dieses in den Jahren 68/69 bei der Werft Blohm und Voss gebaute Kriegsschiff war für den Einsatz gegen die Befreiungsbewegungen in den portugiesischen Kolonien bestimmt. Ein aus Westdeutschen und Kämpfern der Befreiungsbewegung zusammengesetztes Kommando brachte eine Sprengladung am fast fertig ausgerüsteten Schiff an und – nachdem durch eine Vorwarnung für den Schutz der Werftarbeiter gesorgt war – jagten es in die Luft: die Bordelektronik wurde völlig zerstört, die Geschütze im Eimer – der Schaden belief sich auf einige Millionen, die Auslieferung des Schiffes war um etliche Monate verzögert worden.

Was ich damit sagen will, ist folgendes: die „Schwarze Ratten Internationale“ in Hamburg, die „Tupamaros“ in München oder die „Rast- und Ruhelosen Wermutsrebellen“, eine Splittergruppe der „Umherschweifenden Haschrebellen“ aus Berlin, sind die Vorläufer der „Grundeinheiten“ der Bewegung 2. Juni. Ihre Politik findet sich nicht zuletzt in Bremen wieder, im Angriff auf eine provokatorische Rekrutenvereidigung – und ihre Politik wird sich zwangsläufig in jeder Basisbewegung wieder finden, die an einen bestimmten Punkt ihrer Entwicklung kommt: die Basis bestimmt – unabhängig von einer Führung – den Grad der Militanz ihrer Aktionen und ihrer Stoßrichtung.

Der Staat und seine Medien haben zwar immer wieder versucht, die „Anführer“ der Bewegung 2. Juni zu präsentieren, haben versucht, vergessen zu machen, aus welchem Zusammenhang diese Bewegung kommt, nämlich aus einem Zusammenhang ohne Anführer und Gefolgschaft, aus einem Zusammenhang der völligen Gleichwertigkeit aller Genossinnen und Genossen – und fast wäre es ihnen ja zumindest teilweise gelungen, aber dann ist ihnen das Alibi von Fritz Teufel, dem einzigen Intellektuellen der in Berlin Angeklagten, dazwischengekommen.

Das Eingeständnis, dass der von den Medien immer als Chefdenker aufgebaute Kopf der Bewegung 2. Juni gar nicht mitgedacht hat, sich an den Aktionen, die er angeblich genial geplant hat, gar nicht beteiligt hat, hat die Verbindung zum Ursprung der Bewegung mit einem Schlag wiederhergestellt: die Namenlosen bestimmen die Politik des 2. Juni.

Wernfried Reimers (Oktober 1980)