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Bär bleibt hier! Keine Ausweisung von Ralf Reinders,
Gefangener aus der Bewegung 2. Juni

Mai 1990 – ProWo – Zeitung für die Westberliner Linke – Nummer 2


Die deutsche Frage spukt momentan in vielen Köpfen, auch in vielen linken. Deutschtümelei und nationale Besoffenheit beherrschen die „öffentliche Meinung“. Dieser Staat geht deshalb umso mehr gegen Jene vor, die sich mit Vergangenheit und Kontinuität genau dieser deutschen Geschichte nicht abfinden wollen.

Es gab und gibt immer noch Menschen, für die gerade die bruchlosen Traditionen in diesem Land, wie auch die Zusammenarbeit mit anderen imperialistischen und/oder faschistischen Regimes Grund genug war und ist, für eine Änderung dieser Zustände zu kämpfen.

Diese Menschen sind für die Regierenden Störfaktoren. Ralf ist einer von ihnen.

Seine Geschichte ist auch eine deutsche Geschichte. Sie ist kompliziert und muss deshalb näher erklärt werden.


Ralfs Vater ist Holländer. Er wurde nach der Besetzung der Niederlande durch die Wehrmacht nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt.

Die Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft wurden aus allen besetzten Gebieten zwangsdeportiert, um die Kriegsproduktion im Dritten Reich auf vollen Tourenlaufen zulassen – alles für den Sieg des „Großdeutschen Reiches“.

Für die holländischen Männer gab es entweder die Möglichkeit zur Zwangsarbeit oder den Beitritt zur germanischen SS. Diese setzte sich aus Männern so genannter „germanischer Völker“ zusammen. Sie war eine Art Hilfsgruppe der SS-Mannschaften.

Da eine Totalverweigerung des Vaters KZ bedeutet hätte, er aber nicht bereit war, mit Faschisten zu kollaborieren, entschied er sich für die Arbeit.

In Berlin lernte er am Arbeitsplatz Ralfs Mutter kennen, die Deutsche war.

Als „Germanen“ erhielten sie die Sondererlaubnis zuheiraten. Durch diese Eheschließung verlor die Mutter nach dem Krieg die deutsche Staatsangehörigkeit.

Als Ralf Reinders 1948 in Berlin geboren wurde, war er automatisch holländischer Staatsbürger. Die Zufälligkeit dieser Staatsbürgerschaft hatte zunächst keine besondere Bedeutung für sein Leben. Er wuchs in Berlin auf und ging hier zur Schule.

Mitte der sechziger Jahre, begann sich, nach zwölf Jahren Nazi-Terror und 20 Jahren anti-kommunistischer Hetze, erstmals wieder eine Jugendbewegung auf sozialistische Ideen zu besinnen.

Diese Fakten, vor allem aber die bestehenden Verhältnisse in der BRD, brachten Ralf, wie viele andere auch, auf den Weg zum politischen Widerstand.

Die Wut über den Krieg der USA gegen das Volk von Vietnam, die autoritäre Bevormundung in der Schule, die Unterdrückung und Ausbeutung der ArbeiterInnen, die Hetze der Medien und die Gewalt des Staates gegen Andersdenkende – dies alles und noch mehr bestimmte die ersten Ziele des Widerstandes. Dabei entwickelten sich unterschiedliche Ansätze des Kampfes. Ralf entschied sich für revolutionäre Politik, die auch die Entwicklung anderer Widerstandsformen einschloss – hin zum bewaffneten Angriff – über Haschrebellen und Tupamaros zur „Bewegung 2. Juni“.

Der 2. Juni begriff sich als ein bewaffneter Teil der undogmatischen Linken in der BRD und Westberlin. Er propagierte die Entwicklung des Kampfes aus ihren Erfahrungen des kapitalistischen Alltags heraus. Er versuchte, den im Ansatz revolutionären Charakter der damaligen Revolte in beispielhafte Aktionen umzusetzen und so die Entwicklung sozialrevolutionärer Gegenmacht voranzutreiben. Die Aktionen des 2. Juni richteten sich ebenso gegen imperialistische Einrichtungen wie gegen den Bullen- und Justizapparat.

Von 1970 bis zu seiner Verhaftung, 1975, lebte und kämpfte Ralf Reinders im Untergrund.

Wegen verschiedener Stadtguerilla-Aktionen, unter anderem der Befreiung von gefangenen Genossinnen im Austausch gegen den geklauten Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz, wurde Ralf zu 15 Jahren Haft verurteilt.

Diese 15 Jahre Knast, unter verschärften Bedingungen, sind im September 1990 abgesessen.

Sie konnten Ralfs Gesinnung und Widerstandswillen nicht brechen!

Doch die Rache des Staates endet damit noch lange nicht. Ralf Reinders, der die niederländische Staatsangehörigkeit verlor, weil er eine bürokratische Bestimmung nicht beachtete, soll nun nach dem Willen der Berliner Ausländerbehörde nach Beendigung der Haftzeit in die Niederlande abgeschoben werden.

Ralf Reinders soll ausgewiesen werden aus der Stadt, in der er aufgewachsen ist. Weg von den Menschen, mit denen er gelebt und gekämpft hat.

Ralf ist kein Einzelfall.

Auch vielen anderen politischen Gefangenen wurden nach der Entlassung aus dem Knast die Möglichkeiten, sich frei zu bewegen, eingeschränkt. So wurde zum Beispiel Monika Berberich der Pass verweigert, mit der Begründung, sie würde eine Auslandsreise dazu nutzen, das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland herabzuwürdigen.

Warum die politischen Gefangenen auch nach der Haft mit einer solchen Härte verfolgt werden, hat die gleichen Gründe, aus denen heraus wir mit ihnen kämpfen wollen. Solange sie nicht abschwören, besitzen sie etwas, was ihnen keiner nehmen kann.

Ihre stärkste Waffe ist ihre Glaubwürdigkeit.

Sie sind eben auch nach vielen Jahren Knast noch immer Akteure und Akteurinnen der Revolte, keine Biertischstrategen und nicht korrumpiert.

Sie sind lebende ZeugInnen unserer politischen Geschichte, die mit uns verhindern können, dass uns genau die genommen wird.

Ralf gehört zu uns!

Wir wollen, dass er hier in Berlin mit uns zusammen leben kann!

Wir werden alles tun, um die Ausweisung zu verhindern!

Keine Abschiebung von Ralf Reinders!

Für das Leben und die Freiheit der politischen Gefangenen kämpfen?