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Die Entführung aus unserer Sicht ...
März 1975 – Die Zeitung der Bewegung 2. Juni die 20 Tage nach der Entführung 30 000 mal in Berlin verteilt wurde



Wer sind wir?

Wir wollen uns mit dieser Zeitung nach den ganzen dramatischen Ereignissen noch einmal so direkt wie möglich und so umfassend wie wir es können, an die Berliner Bevölkerung wenden.

Wir tun dies hauptsächlich aus drei Gründen:

1. Wir wollen, so weit das geht, sagen, was für Leute wir sind.
2. Wir wollen einen Teil der ganzen Lügenmärchen von Presse und Politiker aufdecken.
3. Wir wollen sagen, warum wir CDU-Lorenz entführt haben.

Wir sind nicht ein Haufen von Leuten, die nach dem Motto „je schlimmer, desto besser“ wahllos draufschlagen, wo immer wir für „uns“ eine Gelegenheit dazu sehen. Wir wissen, dass „wir“ den Staat nicht aus den Angeln heben, nicht kaputt machen, nicht stürzen können. Wir sind keine ausgeflippten Kleinbürger. Jeder von uns weiß, was Fabrikarbeit ist, einige haben nicht einmal Hauptschulabschluss, geschweige denn studiert.

Unsere Feinde ziehen ein Gesabber ab, dass es nicht mehr auszuhalten ist, „wir sitzen alle im gleichen Boot“, „wann holen die sich den Gemüsehändler um die Ecke?“ und „keiner kann sich mehr auf die Straße trauen“. Jetzt plötzlich sind alle gleich. Jetzt plötzlich wohnt nicht mehr der eine in der schlechten, aber teuren Mietwohnung in Kreuzberg, Wedding oder sonst wo und der andere in der Zehlendorfer Villa. Jetzt plötzlich verdient der eine nicht mehr 1000 Mark im Monat und der andere gibt sie an einem Tag aus, die Gleichheit, im Gesetz aufgeschrieben ist plötzlich da, obwohl es immer noch nur zehn Prozent Arbeiterkinder an den Universitäten gibt (und nicht weil wir blöder sind), obwohl Reiche mit ihrer Kohle und ihren Beziehungen weiter im Ausland abtreiben und sich ein schönes Leben machen, und die CDU weiter gegen die Abtreibung ist, und die Unternehmer stützt und der kleine Mann weiter der Angeschissene ist. Wer sich wehrt ist kriminell, terroristisch. Es sind nicht etwa die schweinischen Polizisten, die Jugendheime zerstören, Unternehmer, die, wenn’s ihnen passt, Hunderte von Arbeitern auf einen Schlag auf die Straße setzen, Richter und Polizisten, die Kreiselbauer schonen und Automatenknacker erschießen.

Wir sind der Meinung, dass Worte und verbale Forderungen nichts nützen, um das, was in diesem Lande falsch läuft, zu verändern. Zuviel ist schon darüber geschrieben worden, zu viele Menschen erleben es täglich am eigenen Leibe. In dieser Gesellschaft geht es nur Einzelnen gut, die Mehrzahl wird fertig gemacht. Was bedeutet es denn, wenn man den ganzen Tag ackert und abends so kaputt nach Hause kommt, dass man sich nur noch vor den Fernseher hocken kann? Woher kommen die Kindesmisshandlungen, die Schlägereien, die Selbstmorde? Weshalb passiert das nicht in den Villen in Zehlendorf und Dahlem, sondern in Moabit, Wedding und Kreuzberg? Weil in Zehlendorf und Dahlem „feinere, bessere, anständigere“ Leute wohnen? Es kommt doch nicht von ungefähr, dass man den meisten Arbeiterfrauen ihr Alter genau ansieht, während Frau Kressmann Zchach als flotte Unternehmerin, gepflegt und jugendlich ihren krummen Geschäften nachgehen kann.

Wie hat sich Frau Busch angestrengt, um Gehör für ihre miserable Lage zu finden! In ihren Briefen zeigt sich ganz deutlich, dass SPD und CDU ein und derselbe Verein ist. Das Volk darf wählen zwischen Pest und Cholera, das ist die viel beschworene freiheitlich demokratische Grundordnung! „Unser Einkommen ist zum Verhungern zuviel, aber zum Sattwerden zu wenig, denn bei diesen Preisen, die zurzeit sind. Ist es vielleicht in ihrem Sinn, das der Arbeiter nur noch arbeiten, essen und trinken darf und seine Miete bezahlt?“ fragt Frau Busch die Parteien. Allerdings – so sieht es aus, denn je mehr Sorgen der Arbeiter hat, desto weniger kommt er auf „dumme Gedanken“, das kann allen Parteien nur recht sein. Davor haben, die Herrschenden nämlich die meiste Angst: dass das Volk sich wehrt, dass es für seine Rechte kämpft. Wer das Geld hat, hat die Macht und wer die Macht hat, hat das Recht und wird sich hüten, das alles freiwillig abzugeben. Sie können nur dazu gezwungen werden!

Ansätze dazu gibt es schon: wilde Streiks, Bürgerinitiativen, der Kampf gegen den Bau des Atomkraftwerks in Wyhl, aber auch Formen des Widerstands die nicht so eindeutig sind: wie Krankfeiern im Betrieb, oder ganz „listig“, wie sich Bewohner eines Hauses in Tempelhof gewehrt haben: sie haben Polizisten, die bei ihnen herumschnüfelten, kochendes Wasser über den Kopf gegossen. Der „Schuldige“ konnte nicht gefunden werden.

Wir begreifen unseren Kampf als Teil des allgemeinen Widerstandes. Stadtguerilla bedeutet Phantasie und Tatkraft; Fähigkeiten, die das Volk besitzt. Auch wir sind listig, das heißt wir schlagen nicht wild um uns, sondern schätzen unsere Möglichkeiten realistisch ein, um dann zu handeln. Wir lernen aus der Praxis. Nur deshalb ist die Lorenzentführung eine „perfekte“ Aktion gewesen. Wir sind keine Phantome und auch nicht „krankhaft genial“, wie Parteien, Presse und Polizei, sich und der Bevölkerung einreden wollen um ihre eigene Erbärmlichkeit zu bemänteln.

Wir haben erkannt, dass man zusammenhalten, sich organisieren muss, wenn man was erreichen will. Zuerst ist man allein und daher kann man auch nicht viel machen, aber das heißt nicht resignieren, sondern sich umschauen nach Leuten, die auch so denken und was verändern wollen. Davon gibt es Zigtausende. Und dann zusammen beginnen, aus eigenen Fehlern lernen, sich aber nicht entmutigen lassen, auch wenn es zunächst und oft aussichtslos erscheint.

Der Staat und die Polizei sind nicht allmächtig, auch wenn Berlin die größte Polizeidichte der Welt hat.