Reaktionen
„Linksradikale Geschichte wieder aneignen“

Wera Richter | junge Welt | 2. Juni 2005

30 Jahre nach der Lorenz-Entführung erinnert ein Kongress unter dem Motto „in Bewegung bleiben“ in Berlin an die 50er und 60er Jahre. Ein Gespräch mit Claudia Zimmermann*

* Claudia Zimmermann ist Mitorganisatorin des Kongresses „in Bewegung bleiben“. Dieser Kongress findet aus Anlass des 30. Jahrestages der Entführung des Westberliner CDU-Politikers Peter Lorenz statt. Lorenz war von der „Bewegung 2. Juni“ gekidnappt worden, er wurde im Austausch gegen fünf politische Gefangene freigelassen.

Vom 3. bis 5. Juni findet in Berlin der Kongress „In Bewegung bleiben“ statt. Das Programm liest sich eher wie ein Geschichtsseminar. Worum geht es?

Ursprünglich schwebte uns – einer Gruppe von Leuten aus linken Zusammenhängen in Berlin – anlässlich der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz vor 30 Jahren eine Veranstaltung zur Geschichte der „Bewegung 2. Juni“ vor. Bald wurde uns klar, dass das nicht geht, ohne den gesellschaftlichen und weltweiten Kontext zu beleuchten. Wir wollen politische Kontinuitäten und Prozesse in der BRD in den 50er und 60er Jahren, die Studierendenbewegung, die APO, frühe Bewegungsansätze von anpolitisierten Jugendlichen in den Großstädten und vieles mehr diskutieren.

„Geschichtseminar“ trifft nicht ganz, weil wir Perspektiven einer neuen sozialrevolutionären Bewegung entwickeln wollen. Am Sonntag wird es deshalb dazu ein Podium mit allen Referentinnen und Referenten geben. Das Nachdenken über die Perspektiven des Kampfes gegen die kapitalistischen Verhältnisse, gegen Ausbeutung und Unterdrückung, sollte unserer Ansicht nach die Auseinandersetzung mit bereits gemachten Versuchen einschließen. Auf Basis der offiziellen Geschichtsschreibung ist das nicht möglich. Deshalb setzen wir uns mit damals aktiven Leuten auseinander und fragen nach Ansätzen, Entwicklungen, Fehlern.

Wen haben Sie als Referenten gewonnen?

Das Spektrum umfasst APO-Aktivisten, Beteiligte aus der Stadtguerilla und Aktivisten aus der Jugendrevolte. Bei der Auswahl der Referentinnen und Referenten haben wir darauf geachtet, dass sie heute noch politisch aktiv sind. Dabei sind zum Beispiel Inge Viett, ehemals „Bewegung 2. Juni“ und heute aktiv im Gegeninformationsbüro, Stefan Wisnewski, ehemals RAF und heute aktiv gegen Knastindustrie und Traditionspflege in Mittenwald, Wolfgang Dreßen, ehemals Mitglied des SDS-Berlin und heute Professor an der Fachhochschule Düsseldorf.

Am zweiten Tag des Kongresses geht es um „Jugendrevolte und Subkultur“. Was wollen Sie da ansprechen?

Neben der Studentenbewegung der 68er gab es eine Jugendrevolte, die von Jungarbeitern, Schülerinnen und Schülern und Trebekids getragen wurde. Sie kämpften gegen den reaktionären Mief, für Freiräume, Selbstbestimmung und Selbstorganisation. Diese Bewegung wird heute im Zusammenhang mit 68 kaum erwähnt. Wir wollen über diesen vergessenen Teil der Bewegung berichten, aus dem ein großer Teil der Aktivstinnen und Aktivisten der „Bewegung 2. Juni“ gekommen ist.

Welche Rolle spielen die internationalen Kämpfe auf dem Kongress?

Die weltweite Aufbruchstimmung Ende der 60er spielte für die Bewegungen und bewaffneten Gruppen in der BRD eine große Rolle. Darum möchten wir einige wichtige Organisationen und ihren konkreten Einfluss auf die Kämpfe hier etwas detaillierter vorstellen. Es wird Beiträge zu den Black Panther und Weather Underground, den Tupamaros und zu Vietnam geben. Abschließend wird Ralf Reinders ein Referat zur internationalen Solidarität damals und heute halten.

Der Kongress soll auch ein Zeichen gegen Geschichtsrevisionismus setzen. Inwiefern trifft der die Geschichte der radikalen Linken?

Die Klitterung der Geschichte linker Bewegungen der 60er und 70er Jahre kommt sowohl in Gestalt historischer und psychologischer Abhandlungen daher als auch immer öfter in den Medien mit verzerrenden und denunziatorischen Publikationen. So fällt zum Beispiel Jan-Philipp Reemtsma in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu „RAF-Mitglied“ nur noch „SS-Mann“ ein. Gemeinsam ist allen Formen dieser Geschichtsrevision die Botschaft, dass die Infragestellung der herrschenden Verhältnisse und Widerstand sinnlos sind.