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Kongress zur Geschichte der Bewegung 2.
Juni
Else Koslowski | kassiber | Nummer 59 | November 2005
Gaul Geschichte, du hinkst
Anfang Juni lud ein „bunter Haufen“ – so die Selbstbeschreibung – sehr
junger Genossinnen zum Kongress „in bewegung bleiben – 30 Jahre
nach der Lorenz-Entführung“ in den Berliner Mehringhof. Mit der Zielsetzung
der Wiederaneignung „linksradikaler Bewegungsgeschichte jenseits des herrschenden
Diskurses von Distanzierung und Historisierung“ sollte die Entstehung
bewaffnet agierender Gruppen der radikalen Linken in der BRD im „historischen
Kontext der sozialen und antiautoritären Bewegungen“ betrachtet werden.
Des Weiteren sollten „ihre organisatorischen Konzepte und Praxis“,
der Einfluss von „Kämpfen in anderen Teilen der Welt“, die „gesellschaftliche
Verankerung“, das „Wechselverhältnis“ zu den sozialen
Bewegungen hier und letztlich „Schwächen, Fehler und die Gründe
des Scheiterns“ bewaffneter Politik in der BRD diskutiert werden.
Anlass war der 30. Geburtstag der als linke Erfolgsgeschichte verbuchten Lorenz-Entführung,
bei der ein Kommando der Bewegung 2. Juni den Westberliner CDU-Spitzenkandidaten
Peter Lorenz entführt hatte und später ihn gegen politische Gefangene
austauschte.
Die für Berliner Verhältnisse nicht eben zahlreich erschienenen 100
bis 150 BesucherInnen gehörten im Gegensatz zu den VeranstalterInnen zum
großen Teil eher den Jahrgängen der Zeitzeuglnnen und Dabeigewesenen
an. Vorträge waren angekündigt von Inge Viett, Ralf Reinders, Gabriele
Rollnick, Stefan Wisnieswki, Margrit Schiller, Thomas Giefer und Carlos Antoniazzi [1].
Bereits im Vorfeld hatte Karl-Heinz Roth seine Teilnahme mit der Begründung
abgesagt, dass die in der graphischen Gestaltung von Ankündigungs-Flyer
und -Plakat vorgenommene Fokussierung auf die Lorenz-Entführung den Blickwinkel
einenge und letztlich notwendige Debatten unmöglich mache. Hatte Karl-Heinz
Roth noch über seine Kritik mit den VeranstalterInnen ausführlich debattiert,
so hatten es andere Referenten wie Heinrich Hannover, Hans-Rüdiger Minow
und Wolfgang Dressen nicht für nötig befunden, ihre teilweise kurzfristigen
Absagen zu begründen.
Referatemarathon
Nach einem ausgesprochen schlechten Einleitungsvortrag am Freitag zur gesellschaftlichen
Situation der Nachkriegs-BRD, der das Potsdamer Abkommen von 1945 zum Ausgangspunkt
nahm und mehr oder weniger bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte in etwa auf dem
Niveau der „Informationen zur politischen Bildung“ abhakte, endete
der erste Veranstaltungstag mit einer Vorführung des zeitgenössisch
produzierten Films „Berlin, 2. Juni ’67“ von Thomas Giefer.
Der Filmemacher berichtete im Anschluss darüber, dass das Material ursprünglich
für den Ermittlungsausschuss zur Identifizierung von brutalen Polizeibeamten
gedacht war und über die nach Westdeutschland unternommenen Dia-Vortragsreisen
zu den Ereignissen des 2. Juni 1967 in Berlin. Anekdötchen vom widerständigen
Studentlnnenleben an der gerade gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie
Berlin (DFFB), an der er gemeinsam mit Holger Meins und Werner Sauber weniger
studierte als vor allem mal versuchte, das Medium Film in den Dienst der Sozialrevolte
zu stellen, rundeten den Beitrag ab.
In Giefers Erinnerung wurde der 2. Juni nicht zuletzt deswegen zu einem Initialereignis
der Bewegung, weil damit die Phase einer eher humanistisch-radikaldemokratisch
motivierten Empörung des studentischen Milieus jäh beendet wurde. Hatte
sich der studentische Protest bis dahin an gewisse Spielregeln gehalten und erwartete
dies auch von der Gegenseite, so zerplatzte diese aus der Rückschau naiv
anmutende Haltung mit den Schüssen auf Benno Ohnesorg wie eine Seifenblase.
Zwar war 1952 schon einmal ein Demonstrant, der damals 21-jährige Phillipp
Müller, bei einer aus dem KPD-Spektrum organisierten Friedenskarawane in
Essen erschossen worden, doch dieses Ereignis habe – so Giefer – jenseits
der „Wir-Wahrnehmung“ gelegen.
Der Samstag geriet dann zu einem regelrechten Referatemarathon. Das angekündigte
Podium zu „Jugendrevolte und Subkultur“ verkam leider mehr zu einem
Erzählcafé als zu einer nach der Ankündigung zu erwartenden
Diskussionsrunde mit Zeitzeuglnnen verschiedener Bewegungen.
Zunächst stellte Ralf Reinders die eher dem proletarischen Milieu entstammenden
Jugendsubkulturen unter dem Motto „Politisierung und Organisationsansätze“ vor
und schlug einen Bogen vom Rock’n’Roll und den noch unpolitischen
Halbstarkenkrawallen [2] der fünfziger über die Beatniks und GammlerInnen [3]
der sechziger Jahre bis zur Konstituierung der Haschrebellen im Sommer 1969.
Er erzählte vom Treffpunkt der Berliner Beatnik- und GammlerInnenszene an
der Gedächtniskirche, von den Auseinandersetzungen mit der Polizei zum Beispiel
beim Rolling Stones-Konzert in der Waldbühne 1965, von Leuten, die ihre
Lehrstelle verloren, weil sie lange Haare hatten und von den alltäglichen
und nicht selten tätlichen An- und Übergriffen von AktivbürgerInnen,
OrdnungshüterInnen und Springerpresse, die gegen die GammlerInnen mit denselben
hasserfüllten Parolen geführt wurden wie gegen die demonstrierenden
StudentInnen. Am 2. Juni hatten jedenfalls die Arbeiterjugendlichen der Beatnikund
GammlerInnenszene allemal das Gefühl, dass auch auf sie geschossen worden
ist.
Im Anschluss erzählte Carlos Antoniazzi über die Anfänge des
Thomas-Weissbecker-Hauses (TWH). Antoniazzi gehörte zu den tausend bis zweitausend
illegalen jugendlichen TrebegängerInnen, die Anfang der siebziger Jahre
auf Berlins Straßen lebten, weil ihnen dies immer noch menschenwürdiger
erschien, als sich in den damaligen Fürsorgeheimen – zeitgenössisch
von GenossInnen auch „kapitalistische Anpassungslager“ genannt – von
Kinderverwahrexpertlnnen drangsalieren zu lassen. Politisiert nicht zuletzt unter
dem Einfluss linksradikaler Basisgruppen des studentischen Milieus wurden viele „Trebekids“ zu
einem aktiven Teil der selbstorganisierten SchülerInnen- und Jugendbewegung.
Sie beteiligten sich an der Besetzung des Georg-von-Rauch-Hauses am 6. Dezember
1971 und erkämpften sich unter „Mitarbeit“ des Vereins „Sozialpädagogische
Sondermaßnahmen Berlin“ (ssb) das TWH. Nicht zuletzt unter dem Eindruck
anhaltender Repressionen und behördlicher Schikanen entwickelten sich rege
Aktivitäten: Als die anfangs von einem öffentlichen Träger übernommenen
Lebensmittellieferungen für die mehrheitlich zunächst noch illegalen,
mittellosen Kids des TWH eingestellt wurden, gründete sich kurzerhand die „Trebebambule“ – eine
Gruppe 12 bis 14-jähriger, die sich auf ertragreiche Besuche bei Lebensmittelfilialen
spezialisierte. Neben der Organisation kollektiver Überlebens- und Wohnformen
gehörten Befreiungsaktionen aus Fürsorgeheimen, Unterstützung
von SchülerInnenstreiks, Widerstandsaktionen gegen unliebsame SozialarbeiterInnen
etc. zum politischen Alltag der „Trebekids“.
Neben weiteren Referaten von Gabriele Rollnik zu den Anfängen der autonomen
Frauenbewegung und von Margrit Schiller über den antipsychatrischen Ansatz
des Sozialistischen Patientenkollektivs (SPK) in Heidelberg – eine
große Anzahl von Leuten aus dem SPK war später in den bewaffneten
Kampf gegangen – referierte Stefan Wisniewski kurz und prägnant über
die so genannte „Randgruppenstrategie“. Seit Ende 1968 fühlten
sich dieser viele Gruppen vor allem der studentischen Linken, darunter bekanntlich
nicht wenige der ersten Generation der RAF, verpflichtet. Den jahrelangen „Klassenfrieden“ in
der BRD vor Augen und gestützt auf Thesen Herbert Marcuses, die dieser als
Ergebnis seiner Analysen von Unterschichtspraxen insbesondere in den USA gewonnen
und in seiner Publikation „Der eindimensionale Mensch“ (deutsch 1967)
dargestellt hatte, wurde von Teilen der Neuen Linken das revolutionäre Subjekt
nicht mehr in der traditionellen ArbeiterInnenklasse, sondern in „Randgruppen“ und „Deklassierten“ ausgemacht.
Auch in Frantz Fanons viel rezipiertem „Die Verdammten dieser Erde“ (deutsch
1966) findet sich die Forderung, dass jede Befreiungsbewegung dem „Lumpenproletariat
größte Aufmerksamkeit“ schenken müsse. Von einer „Randgruppentheorie“ im
eigentlichen Sinne wird man jedoch nicht sprechen können, wie Stefan Wisniewski
konstatierte.
Doch wie auch immer man zum Beispiel die Heimkampagnen der siebziger Jahre zur
politischen Agitation und praktischen Unterstützung so genannter Fürsorgezöglinge
theoretisch und strategisch begründete: Eine Vermittlung zwischen solchen
sozialrevolutionären Ansätzen und dem antiimperialistischen Erbe der
68er gelang nicht. Spätestens mit dem Übergang zur bewaffneten Politik
wuchs sich diese fehlende Vermittlung zu einem handfesten Widerspruch verschiedener
strategischer Konzepte aus, der sich durch alle bewaffneten Gruppen zog.
Dem hier grob skizzierten Themenblock folgte schließlich zu später
Stunde noch der Themenblock „Internationaler Kontext“, in dessen
Rahmen als Ersatz für einen kurzfristig abgesagten Beitrag von Hans-Rüdiger
Minow ein Genosse aus Uruguay über die Geschichte der Tupamaros von 1960
bis zur Gegenwart referierte. Anschließend verlas Inge Viett ein Referat über
die Geschichte der Black Panther und die „Weather Underground Organization“.
Der Beitrag von Ralf Reinders über „Internationale Solidarität
gestern und heute“ wurde aufgrund des stillen Boykotts des Publikums – die
meisten hatten sich angesichts der gen Mitternacht fortschreitenden Stunde bereits
aus dem Staub gemacht – auf Sonntag vertagt.
Experten-Chat
Etwas interessanter wurde der Kongress am Sonntag. Statt weiteren Vorträgen
stellten nun die VeranstalterInnen einem Podium mit Inge Viett, Gabriele Rollnik
und Ralf Reinders Fragen zu Aufbau, Konzept und Entwicklung der Bewegung 2. Juni.
Hinsichtlich der Frage nach den Gründen für den Aufbau einer eigenen
Guerilla neben der RAF herrschte noch weitgehend Einvernehmen auf dem Podium:
Nachdem es seit Frühjahr 1970 zwischen Teilen des Blues – einer
laut Podium ursprünglich von Gudrun Ensslin kreierten Bezeichnung – und
der RAF diverse Diskussionen über das Projekt des bewaffneten Kampfes gegeben
hatte und es im September 1970 sogar zu einer gemeinsamen Geldbeschaffungsaktion
gekommen war, beschlossen im Januar 1972 drei Gruppen des Blues den Zusammenschluss
zu einer eigenen Organisation: der „Bewegung 2. Juni“ – als
Alternative zur RAF. Ausschlaggebend seien vor allem drei Dinge gewesen: die
Kritik am Marxismus-Leninismus der RAF vor allem von Seiten des anarchistischen
Hügels des Blues um Peter Paul Zahl, weiterhin der bei der Praxis der RAF
bemängelte fehlende sozialrevolutionäre Bezug und – wie
im normalen Leben eben auch – persönliche Probleme zwischen Einzelnen
hier und dort. Zudem sollte die Bewegung 2. Juni organisatorisch im Unterschied
zur RAF über autonome Aktionseinheiten verfügen, in denen illegale
und legale militante Zellen ihren Platz haben. Ab Ende 1973 begann ein Teil der
Bewegung 2. Juni um den 1975 in Köln erschossenen Werner Sauber unter dem
Eindruck der gerade zerschlagenen wilden Streiks in der Automobil- und Stahlindustrie
in Westdeutschland mit dem Aufbau militanter Fabrikgruppen nach dem Vorbild der
italienischen Roten Brigaden.
Zu Meinungsverschiedenheiten kam es, als von den VeranstalterInnen die innere
Fraktionierung angesprochen wurde, die spätestens 1980 mit der so genannten
Auflösungserklärung eines Teils der Bewegung 2. Juni unübersehbar
wurde. Gabriele Rollnik und Inge Viett zufolge habe der Abschied von sozialrevolutionärer
Politik schon 1976 begonnen, nachdem den beiden gemeinsam mit Monika Berberich [4]
und Juliane Plambeck [5] der Ausbruch aus dem Frauenknast Lehrter Straße
in Westberlin gelungen war. Man habe zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit
mehr gesehen an Strukturen anzuknüpfen, die UnterstützerInnenszene
sei weggebrochen und eine Massenbewegung habe es auch nicht mehr gegeben. Kurzum,
die beiden rechtfertigten den Schwenk zur antiimperialistischen Linie der RAF
als eine Art letzten Strohhalm, um überhaupt noch weiter bewaffnete Politik
machen zu können.
Der Einschätzung, dass angesichts der Verhältnisse mit einer sozialrevolutionären
Orientierung kein Blumentopf mehr zu gewinnen war, widersprach selbstredend Ralf
Reinders, damals Mitverfasser mehrerer im Knast verfasster Kritikpapiere. Er
verwies auf die Anti-AKW-Bewegung, die gerade Ende 1976 und Anfang 1977 mit den
massenmilitanten Auseinandersetzungen in Brokdorf und Grohnde eine neue Qualität
bekam, auf den Tunix-Kongress 1978, zu dem wider Erwarten ca. 20 000 Menschen
anreisten und er erinnerte an die Solidarität der gerade entstehenden Autonomen,
die der Auflösungserklärung mit Plakaten und einem Sprengstoffanschlag
auf das Rathaus Kreuzberg unter dem Motto „Wir sind alle vom 2. Juni“ entgegen
traten. Dass es Auseinandersetzungen über die 1976 einsetzende Annäherung
an eine antiimperialistische Linie auch unter den Aktiven draußen gab [6],
wurde allerdings gar nicht erst erwähnt und eine Frage aus dem Publikum,
warum ein Zusammengehen mit den ebenfalls Ende der siebziger um einen Neuanfang
ringenden Revolutionären Zellen keine Option war, wurde von Gabriele Rollnik
mit der Bemerkung weggewischt, die hätten sich ja schließlich auch
aufgelöst und am weitesten habe das Konzept der RAF getragen.
Umstritten war darüber hinaus die Bewertung der Erschießung Ulrich
Schmückers. Ulrich Schmücker, ursprünglich Aktivist der Bewegung
2. Juni, wurde am 7. Mai 1972 gemeinsam mit Harald Sommerfeldt, Wolfgang Knupe
und Inge Viett in Bad Neuenahr verhaftet. Während seiner Untersuchungshaft
machte er nicht nur wie auch Sommerfeldt umfangreiche Aussagen gegenüber
Polizei und Verfassungsschutz, sondern ließ sich darüber hinaus vom
Verfassungsschutz offensichtlich als Agent anwerben. Schmücker wurde zu
einer zweieinhalbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, kam aber nach
neun Monaten Untersuchungshaft „aus gesundheitlichen Gründen“ wieder
auf freien Fuß. Nach seiner Entlassung soll Schmücker im Sommer 1973
zunächst im Nahen Osten gewesen sein und danach im Auftrag des Verfassungsschutzes
versucht haben, erneut in der militanten Berliner Szene Fuß zu fassen.
Nachdem dort seine Tarnung aufflog, sollte Schmücker – so Inge
Viett und Ralf Reinders – zunächst lediglich observiert und
isoliert werden, um ihn unter Kontrolle zu halten. Als in der Szene Gerüchte
auftauchten, dass gegen Schmücker am 2. Juni 1974 „etwas laufen soll“,
bemühten sich die beiden vergeblich Näheres herausfinden.
Schließlich wurde Schmücker in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1974
von US-Soldaten bei einem Manöver im Grunewald erschossen aufgefunden. Die
Bewegung 2. Juni übernahm die Verantwortung, weil – so Ralf
Reinders und Inge Viett – man die Leute, von denen man vermutete,
dass sie etwas damit zu tun hatten, nicht hängen lassen wollte.
Die Erschießung Ulrich Schmückers und die mit „Kommando Schwarzer
Juni“ unterzeichnete Erklärung lösten damals heftige Debatten
und Distanzierungen in der Linken aus. Drei Monate später wurden sechs Tatverdächtige
aus einer Wolfsburger Wohngemeinschaft festgenommen. Grundlage der Anklage wurden
die Aussagen des ehemaligen Mitbewohners und Kronzeugen Jürgen Bodeux. Obwohl
sich eigentlich aus der Liquidierung Schmückers für die Zukunft Einiges
lernen ließe, zum Beispiel hinsichtlich der Schwierigkeiten, wenn nicht
gar Grenzen klandestiner Gruppen, blieb die Debatte begrenzt und die Darstellung
von Inge Viett und Ralf Reinders war beherrscht von Relativierungen wie „alle
revolutionären Gruppen haben ihre Leichen im Keller“ und dem Herbeifabulieren
abwegiger Szenarien „wo es unter Umständen notwendig werden könne,
dass sich Revolutionäre eventuell gezwungen sähen würden, Kopfschusspolitik
in Betracht würden ziehen zu müssen“.
Konzeptionsmängel
Am Samstag war letztlich nach viel anstrengendem Zuhören viel Zeit vertan
und wenig Substanzielles herausgekommen, auch wenn sich weniger Karl-Heinz Roths
Befürchtung der zweifelhaften Fokussierung bewahrheitet hatte. Im Gegenteil:
Bei manchem Vortrag hätte man sich als teilweise arg strapazierte Zuhörerin überhaupt
irgendeine Fokussierung gewünscht – gerne auch auf leitende Fragestellungen
oder kontroverse Thesen hin. Aber es stellte sich nicht nur am Ende dieses Tages
die Frage, ob wirklich nur einzelne Beiträge oder nicht eher der ganze Kongress
ungenügend konzipiert war.
Der überwiegende Teil der Referate hatte ausschließlich deskriptiven
Charakter. Dort, wo sich die Vortragenden weniger als GeschichtslehrerInnen versuchten,
sondern vielmehr ihre konkreten subjektiven Erfahrungen als Beteiligte – oder
genauer gesagt die notwendigerweise retrospektive Konstruktion derselben – in
den Mittelpunkt stellten, wie bei den Beiträgen von Thomas Giefer, Carlos
Antoniazzi und Margrit Schiller, war dies im Sinne einer Materialsammlung für
eine noch zu erarbeitende linksradikale Geschichtsschreibung von unten durchaus
in Ordnung, vorausgesetzt die VeranstalterInnen kommen ihrer Ankündigung
nach, das mit hohem technischen Aufwand gesammelte Material zu veröffentlichen.
Insgesamt blieb jedoch angesichts des eklatanten Mangels an Fragehaltung seitens
der ReferentInnen und dementsprechend fehlender Analyse der Eindruck, nicht nur
mancheR ReferentIn, sondern möglicherweise auch die VeranstalterInnen seien
dem Irrglauben aufgesessen, man müsse das Publikum nur mit einem Haufen
Informationen und chronologisch addierter Ereignisse füttern, dann stelle
sich die Erkenntnis schon irgendwie von selbst ein. Gerade Reizthemen, wie die
Problematik einer antisemitisch konotierten Palästina-Solidarität,
wurden in den Vorträgen gar nicht thematisiert und dazu hätte es unabhängig
der von antideutschen Gruppierungen im Eingang des Mehringhofes gekleisterten
Plakaten durchaus Anlass gegeben. So wurde zum Beispiel zum Anschlag der Tupamaros
Westberlin auf das jüdische Gemeindehaus am 9. November 1969 erst auf Nachfrage
jüngerer GenossInnen Stellung bezogen.
Hatte dann doch mal ein Vortrag, wie der von Stefan Wisniewski, auf eine ganz
entscheidende Fragestellung hingewiesen, nämlich auf den ungelösten
Widerspruch von antiimperialistischer und sozialrevolutionärer Strategie,
wurde dies von MitreferentInnen, VeranstalterInnen und Publikum schlichtweg ignoriert.
Zum kompletten Desaster geriet schließlich der Themenblock „Internationaler
Kontext“. Anstatt wie angekündigt den Einfluss der internationalen
Kämpfe auf die Entwicklung des Stadtguerilla-Konzepts in den Mittelpunkt
zu stellen, wurde rein deskriptiv, ausgesprochen langatmig und ohne substanziellen
Zusammenhang zu den Auseinandersetzungen hier eine Ereignisgeschichte der Tupamaros,
der Black Panther und Weather Underground Organization verlesen. Hätte man
nicht vielmehr die Frage nach Rezeption und Interpretation der internationalen
Kämpfe durch die Militanten in der BRD und die mit ihnen verbundenen Hoffnungen
in den Vordergrund stellen müssen? Welche Prämissen lagen der Vorstellung
von der „weltweiten antiimperialistischen Front von Kuba bis Nicaragua“ (Inge
Viett) zugrunde? Was bedeutete das Selbstverständnis, Teil dieser „Front“ zu
sein konkret? Welche Kämpfe wurden in diesem Selbstverständnis wie
wahrgenommen und welche nicht? Wer waren die potentiellen Verbündeten und
welche waren in der Praxis erreichbar? Viele Fragen, die nicht einmal gestellt,
geschweige denn debattiert wurden. Stattdessen wurde das Publikum mit Informationen über
die genannten Organisationen solange zugeschissen, bis die ReferentInnen und
VeranstalterInnen am Samstagabend fast unter sich waren.
An der Oberfläche gekratzt
Bei aller Kritik ist den VeranstalterInnen aber auch ein Lob auszusprechen, überhaupt
einen Kongress zur gerade auch in der Linken eher unterbelichteten Geschichte
der Bewegung 2. Juni, in der Absicht, dieselbe für die Zukunft nutzbar zu
machen, auf die Beine gestellt zu haben. Den ReferentInnen gebührt ein Dank
für die Unterstützung dieses Vorhabens. Die mediale Aufbereitung des
Kongresses – das Podium und die Beiträge aus dem Publikum wurden
unablässig gefilmt und auf Leinwände im jeweiligen Kongresssaal und
zum Teil nach draußen übertragen – schien allerdings arg überzogen.
Der Gang zum Mikrofon wurde dadurch für viele nicht leichter und nicht jedeR
möchte bei einem Kongress mit dem Thema „bewaffneter Kampf“ später
auf einer öffentlich zugänglichen DVD landen.
Dafür, dass das Ergebnis nicht gerade das Gelbe vom Ei war, dürfte
es viele Gründe geben. Einige wurden hier bereits angesprochen: Kurzfristige
Absagen seitens einiger ReferentInnen, ein völlig überladenes, sehr
deskriptives und wenig analytisches Vortragsprogramm, der Anspruch, die Geschichte
der Bewegung 2. Juni in einer Art Gesamtgeschichte der radikalen Linken einzubetten,
mit dem Ergebnis – wie so oft bei solchen Totalperspektiven – an
vielen Punkten lediglich an der Oberfläche herumgekratzt zu haben und bei
entscheidenden Themen (Internationalismus, Militanz etc.) weit hinter bereits
geführte Debatten zurückgefallen zu sein usw. Vieles andere fehlte
völlig oder wurde bestenfalls am Rande erwähnt, wie zum Beispiel der
Fabrikguerilla-Ansatz der Gruppen um Werner Sauber.
Zeitzeuginnen – heilige Kühe?
Zum Schluss sei noch ein eher grundsätzliches Problem angesprochen, nämlich
die Art und Weise linker Geschichtsaneignung. Die verlief auch auf dem hier beschriebenen
Kongress mal wieder nach dem Muster die Alten/Dabeigewesenen erzählen den
Jungen mal, wie’s denn nun wirklich war. Dahinter steckt offenbar die weit
verbreitete Vorstellung, dies sei ein adäquater Weg, der akademischen Geschichtsschreibung
bürgerlicher Provinienz mit ihren historisierenden, psychologisierenden
und distanzierenden Implikationen etwas entgegensetzen zu können.
So schreiben beispielsweise auch die Autoren von Autonome in Bewegung: „Die
Geschichte der Autonomen lässt sich nicht durch soziologische Forschung
und akademisches Quellenstudium nachzeichnen. Sie muss erzählt werden, von
denen, die dabei waren“ (A.G. Grauwacke: Autonome in Bewegung – aus
den ersten 23 Jahren, 2003, S. 7). Glücklicherweise haben sich die Autoren
nicht nur auf ihre Erinnerung als Dabeigewesene verlassen, sondern – wie
sie im Übrigen auf der folgenden Seite zugeben –sehr wohl auch Quellen-
und Literaturstudium betrieben, und sie erzählen nicht nur, sondern analysieren
auch. Kurzum: Die Erinnerungen von Dabeigewesenen, also ZeitzeugInnen, sind lediglich
eine Quelle unter vielen. Eine wichtige zweifellos, weil sich mit ihrer Hilfe
am ehesten Binnenperspektiven rekonstruieren lassen. Vor diesem Hintergrund wäre
es allerdings wichtig, zukünftig deutlich mehr Erinnerungen zu sammeln und
zu fixieren. Natürlich ist auch heute vieles noch nicht sagbar. Aber es
gibt auch andere Mittel und Wege jenseits von öffentlichen Veranstaltungen
und sonstigen identifizierbaren Publikationen, wie beispielsweise der Text „Rauchzeichen – ein
Rückblick auf 20 Jahre RZ“ auf www.freilassung.de zeigt. Dennoch,
bei aller Wichtigkeit von ZeitzeugInnen, auch ihre Erinnerungen sind und bleiben
Rekonstruktionen und es ist naiv hier eine besondere Authentizität zu unterstellen.
Vielmehr muss mit Zeitzeuglnnenberichten genauso quellenkritisch verfahren werden
wie mit allen anderen uns zur Verfügung stehenden Quellen wie Zeitungen,
Flugblätter, Broschüren, Plakate, Grafitti, Filme, Fotos, Musik usw.
oder auch die gegen den Strich zu bürstenden Verlautbarungen der Gegenseite,
von Aussteigermemoiren über bürgerliche Zeitungen bis zu Verfassungsschutzberichten.
Wer – egal, ob nun dabei gewesen oder nicht – Geschichte
von unten betreiben will, nicht um ihrer selbst Willen, sondern als Erfahrungsschatz
für unsere Zukunft als radikale Linke, sollte sich darüber bewusst
sein, dass dies in aller erster Linie eine Sache der Perspektive, der Fragen
und des Standpunktes heute ist und nicht der persönlichen Beteiligung gestern.
Anmerkungen:
- Inge Viett, Jg. 1944, seit 1972 Bewegung 2. Juni, wurde
am 7.5.1972 und am 9.9.1975 festgenommen, konnte jedoch beide Male aus dem Knast
entwischen. Ging 1980 zur RAF und 1982 als Aussteigerin in die DDR, 1990 verhaftet,
1997 vorzeitig entlassen. Memoiren: Inge Viett, Nie war ich furchtloser, Autobiographie,
Hamburg 1996.
Ralf Reinders, Jg. 1948, beteiligte sich an Aktionen der Umherschweifenden
Haschrebellen, ab 1970 illegal, Mitbegründer der Bewegung 2. Juni, Festnahme
am 9.9.1975, Verurteilung zu 15 Jahren, 1990 entlassen. Veröffentl.: Ralf
Reinders, Ronald Fritzsch: Die Bewegung 2. Juni.Gespräche über Haschrebellen,
Lorenz-Entführung, Knast, Berlin 1995.
Gabriele Rollnik, Jg. 1950, APO, Betriebsarbeit, schloss sich
1974 der Bewegung 2. Juni an. Flüchtete nach ihrer ersten Festnahme 1975
gemeinsam mit Inge Viett und anderen am 7.7.1976. Erneute Festnahme 1978, Verurteilung
zu 15 Jahren, 1992 entlassen. Veröffentl.: Gabriele Rollnik, Daniel Dubbe:
Keine Angst vor niemand, Über die Siebziger, die Bewegung 2. Juni und die
RAF, Hamburg 2004.
Stefan Wisniewski, Jg. 1953, Rote Hilfe Hamburg, 1975 zur RAF,
1978 festgenommen, 1981 Bruch mit der RAF im Kontext des Hungerstreik 1981 und
der Forderung des Kriegsgefangenenstatus, 1998 entlassen. Veröffentl.: Stefan
Wisniewski, Wir waren so unheimlich konsequent. Ein Gespräch zur Geschichte
der RAF, Berlin 1997.
Margrit Schiller, Jg. 1948, 1971 SPK, kurze Zeit später
zur RAF, Knast: Okt. 1971 – Feb.1973, RAF, erneute Festnahme Feb.
1974, entlassen Mai 1979, lebte von 1985 – 2002 zunächst auf
Kuba, dann in Uruguay.
Thomas Giefer, Jg. 1944, APO, Mitbegründer des „Rosta
Kino“ (Rotes Studenten und Arbeiter Kino), Dokumentarfilmer.
Carlos Antoniazzi, Jg. 1959, Mitbegründer des ThomasWeisbecker-Hauses,
Prozessbeobachter bei 2. Juni-Prozessen.
- Von 1956 bis 1958 kam es in der BRD mit den Schwerpunkten Berlin und NRW
zu über hundert „Übergriffen“ – vom harmlosen
Auflauf bis zur Straßenschlacht – meist nach Rock’n’Roll
Filmvorführungen oder Konzerten von vor allem Arbeiterjugendlichen, die,
zumal wenn durch Jeans, Petticoat, Mofa und Elvistolle erkennbar, als „Halbstarke“ bezeichnet
wurden.
- Beatniks und GammlerInnen: Vorläufer der Hippies,
- Monika Berberich, Jg. 1942, Gründungsmitglied der RAF
- Juliane Planbeck, zunächst Bewegung 2. Juni, später RAF, verunglückte
zusammen mit Wolfgang Beer am 25.7.1980 bei einem Verkehrsunfall tödlich.
- Vergl. hierzu Klaus Viehmann: Im Jahr der Schweine, in: ak, Nr. 406, Nr.?,
1997. Bezugnehmend hierauf: Timor und sein Trupp: Nie waren wir verärgerter;
in: Interim Nr 429, S.18, digital bei: hyperlink „http://www.nadir.org/nadir/periodika/interim/heft/heft429/seite18b.html“
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