ReferentInnen
Carlos Antoniazzi

Carlos Antoniazzi wird 1959 in Berlin geboren, lebt einige Zeit in Heimen und reißt 1973 von zu Hause aus. Als 13 Jähriger zieht er ins frisch besetzte Tommy-Weissbecker-Haus (TWH) und erlebt dort die Repression gegen die BewohnerInnen, welche von Staatsseite als Sympathisanten der Stadtguerilla gesehen werden. Der Senat empfindet das TWH als Provokation, weil es nach einem von der Polizei ermordeten Stadtguerilla-Mitglied benannt ist. Außerdem stört den Senat die Selbstorganisierung von JungarbeiterInnen, TrebegängerInnen und Lehrlingen zu der es im TWH und anderen Projekten kommt.

Es gibt mehrere brutale Polizeiübergriffe gegen das TWH. Bei der so genannten Aktion „Wasserschlag“, die direkt nach der Lorenz-Entführung stattfindet, werden neben dem TWH auch noch 84 andere Wohnungen, Wohnkollektive und Jugendzentren durchsucht und über 180 Personen festgenommen. Alle Wohnräume im TWH werden dabei von der Polizei zerstört. Über 20 BewohnerInnen werden festgenommen und ein Teil zieht aus Angst vor weiterer Repression aus.

Carlos Antoniazzi politisiert sich mit anderen Trebe-Kids im TWH. Gemeinsam beteiligen sie sich an der „Heimkampagne“ und an Befreiungsaktionen von Jugendlichen aus Kinderheimen. Außerdem werden vor allem an Kreuzberger Hauptschulen lang andauernde Streiks zum Beispiel gegen Berufsverbote organisiert. Obwohl es durch die Streiks kaum Unterricht an der Adolf-Damaschke-Schule gibt, bekommt er 1977 seinen erweiterten Hauptschulabschluss.

Als Beobachter nimmt Carlos Antoniazzi an den Prozessen gegen die „Bewegung 2. Juni“ teil. Beim Lorenz-Drenkmann-Prozess (1978), wird er, wie viele andere auch, wegen Störens aus dem Prozess ausgeschlossen.

1981 beginnt er eine selbstorganisierte Ausbildung als Fotograf und macht eigene Projekte an der Hochschule der Künste in Berlin. Von 1991 bis 1999 ist er in der TWH-Selbstverwaltung aktiv und setzt sich gegen die geplante Auflösung des Hauses ein.

Seit Anfang der 90er baut er den Kulturhof in Prenzlauer Berg mit auf und ist nach wie vor in der radikalen Linken in Berlin aktiv.


Gabriele Rollnik

1950 in Dortmund geboren, ab 1968 Studium der Sozialwissenschaften und ab 1970 in Berlin.

Politische Aktivitäten in der neugegründeten Frauenbewegung. Abbruch des Studiums, um bei AEG-Telefunken als Montiererin zu arbeiten. Ab 1974 Mitgliedschaft in der Bewegung 2. Juni. Teilnahme an der Entführung des CDU-Politikers Lorenz. 1975 erste Festnahme. Zehn Monate später Ausbruch aus dem Berliner Gefängnis zusammen mit Inge Viett (Bewegung 2. Juni), Juliane Plambeck (Bewegung 2. Juni und RAF, 1980 bei einem Autounfall ums Leben gekommen) und Monika Berberich (RAF).

1978 Befreiungsaktion der Bewegung 2. Juni im Gefängnis Moabit, aus dem ein Gefangener der Bewegung befreit wird. Zwei Monate darauf zweite Festnahme durch ein Zielfahndungskommando des BKA in Bulgarien. Überstellung in die BRD, bis 1992 in Kleingruppenisolation in den Hochsicherheitsgefängnissen Berlin und Lübeck. Teilnahme an sechs kollektiven Hungerstreiks. Nach Absitzen der gesamten Strafe von 15 Jahren 1992 entlassen. Lebt und arbeitet in Hamburg.

Buchveröffentlichung: „Keine Angst vor niemand“; Über die Siebziger, die Bewegung 2. Juni und die RAF; Gabriele Rollnik / Daniel Dubbe; Edition Nautilus, Hamburg 2004


Inge Viett

Nachdem das Jugendamt ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen hatte, lebte Inge Viett (geboren 1944) ab 1946 in einem Kinderheim. 1950 kam sie zu einer Pflegefamilie, von der sie nach neun Jahren floh.

Sie schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, strippte in St. Pauli und begann allmählich den Kapitalismus als Ursache der Ungerechtigkeit in der Gesellschaft zu begreifen. 1968 zog sie nach Berlin und beteiligte sie sich an Demonstrationen der APO. Ihr Protest richtete sich vor allem gegen die Konsumgier der Bundesbürger und die Ausbeutung der Dritten Welt durch die Industrienationen.

1972 schloss sie sich der militanten „Bewegung 2. Juni“ an, die 1975 durch die Entführung von Peter Lorenz von sich reden machte und in einer weiteren Aktion den Genossen Till Meyer aus der Haft befreite. Am 7. Mai 1972 und am 9. September 1975 wurde sie festgenommen, aber beide Male gelang ihr die Flucht aus der Haft.

1982 beendete sie den bewaffneten Kampf und ging in die DDR. Als Eva-Maria Sommer wurde sie in Dresden zur Repro-Fotografin ausgebildet. Als jedoch jemand Verdacht schöpfte, es könne sich bei ihr um die in der Bundesrepublik gesuchte „Terroristin“ Inge Viett handeln, musste sie 1987 in Magdeburg unter dem Namen Eva Schnell und als Gruppenleiterin in einem Kinderferienlager des Schwermaschinenbau-Kombinats „Karl Liebknecht“ noch einmal von vorn anfangen.

Nach dem Fall der Berliner Mauer wurde sie am 12. Juni 1990 verhaftet und einige Zeit später in die Bundesrepublik Deutschland überstellt. Das Oberlandesgericht Koblenz verurteilte sie 1992 zu dreizehn Jahren Haft wegen der versuchten Tötung eines Polizisten in Paris. Fünf Jahre später wurde sie vorzeitig entlassen. Im gleichen Jahr veröffentlichte sie unter dem Titel „Nie war ich furchtloser“ ihre Autobiografie (Edition Nautilus, Februar 1997; Rowohlt Taschenbuch, August 1999)

Weitere Veröffentlichungen:
„Einsprüche“ Briefe aus dem Gefängnis (Edition Nautilus 1996)
„Cuba libre bittersüß“ (Edition Nautilus 1998)
„Morengas Erben“ (Edition Nautilus 2004)


Margrit Schiller

Margrit Schiller wird 1948 geboren und wächst in Bonn in einem autoritären Elternhaus auf. Ihr Vater ist Major beim MAD, dem Militärischen Abschirmdienst der Bundeswehr, ihre Mutter Volksschullehrerin und CDU-Stadtverordnete in Bonn. Gleich nach dem Abitur verlässt Margrit Schiller ihr Elternhaus in dem sie es nicht mehr aushält .Sie schreibt sich an der Bonner Universität für Psychologie ein. Auch wenn sie sich von der Studentenbewegung angezogen fühlt, erlebt sie das Geschehen mehr als Beobachterin. 1970 zieht Margrit Schiller nach Heidelberg, wo sie sich dem Aufbau eines Release anschließt, einem selbstverwalteten Zentrum für Heroinabhängige. Dort lernt sie Mitglieder des SPK (Sozialistisches Patientenkollektiv) kennen und schließt sich 1971 dem SPK an. Im Februar 1971 bekommt sie über einen Freund Kontakt zur RAF und überlässt Mitgliedern der RAF ihre Wohnung und mietet eine Wohnung für die RAF in Hamburg an. Ende Juni 1971 werden nach einer Schießerei mit der Polizei zahlreiche Mitglieder des SPK verhaftet. Das SPK hatte einen Radikalisierungsprozess durchgemacht und rief zum bewaffneten Kampf auf. Margrit Schiller beschließt die Brücken zu ihrem bisherigen Leben abzubrechen und zur RAF zu gehen. Am 25. September 1971 sollen Margrit Schiller und ein Genosse einen BMW mit Fingerabdrücken von Andreas Baader und Ulrike Meinhof in der Nähe von Freiburg abstellen, um eine falsche Spur zu legen. Auf dem Parkplatz, wo sie das Auto abstellen wollten, geraten sie jedoch in eine Polizeikontrolle, können nach einer Schießerei aber noch fliehen. Die Fahndung nach ihr läuft danach auf vollen Touren.

Am 21. Oktober 1971 wird sie in Hamburg verhaftet. Für Margrit Schiller ist klar dass sie keinerlei Aussagen machen wird. Am 5. Februar 1973 wird sie zu zwei Jahren und drei Monaten verurteilt Nach ihrer Freilassung am 9. Februar 1973 schließt sie sich wieder der RAF an, wird jedoch am 4. Februar 1974 wieder verhaftet. Sie kommt in einen Toten Trakt nach Lübeck Anfang 1978 wird sie in den Normalvollzug nach Frankfurt Preungesheim verlegt und am 11. Mai 1979 entlassen.

1985 geht sie nach Kuba ins Exil. Ab 1993 lebt sie in Uruguay bevor sie mit ihren Kindern 2002 nach Berlin zieht.

Veröffentlichungen: „Es war ein harter Kampf um meine Erinnerung“ Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1999; Piper Verlag, München 2001


Ralf Reinders

Ralf Reinders wird 1948 in Berlin-Reinickendorf geboren. Nach der 8. Klasse geht er von der Oberschule ab und fängt eine Lehre als Rotaprint-Drucker an. Trotz Gammler-Bewegung beendet er seine Ausbildung: „Meine Freunde hörten so langsam auf zu arbeiten, saßen an der Gedächtniskirche mit der Gitarre rum und hatten Ärger mit den Bullen.“1965 ist er, wie einige andere die später bei der „Bewegung 2. Juni“ waren, an der Waldbühneschlacht beteiligt. Nachdem 200 bis 250 Leute ohne zu bezahlen ein Stones-Konzert sieht, gibt es im Anschluss eine vierstündige Schlacht mit den Bullen.

Die ersten Studierendenaktionen wie Demos gegen den Vietnamkrieg beginnen an denen sich Ralf Reinders beteiligt. Mit der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 kommt die eigentliche Politisierung: „Nach all den Prügeln und Schlägen hatten wir das Gefühl, dass die Bullen auf uns alle geschossen haben.“Die „Umherschweifende Haschrebellen“ werden im Juli 1969 gegründet. Straßenschlachten wegen den ständigen Hasch-Razzien in Szene-Kneipen werden organisiert. Ralf Reinders (Bär) kommt für sechs Wochen in den Knast. Im November 1970 tauchen „Bommi, Bernie und Bär“ ab, nachdem eine Fahndung gegen sie läuft.

Kontakt zur entstehenden RAF entsteht die die Baader-Befreiung vorbereiten. Nach vielen Anschlägen, Banküberfällen und Aktionen entsteht im Januar 1972 die „Bewegung 2. Juni“ aus zwölf Leuten von drei verschiednen Gruppen. Nach der Lorenz-Entführung und den Schaumkuss-Banküberfallen wird Ralf Reinders zusammen mit Inge Viett und Juliane Plambeck nach fast fünf Jahren im Untergrund am 9. September 1975 festgenommen.

Am 10. April 1978 beginnt in Berlin vor dem Kammergericht der so genannte „Lorenz-Drenkmann-Prozess“ gegen Ronald Fritzsch, Gerald Klöpper, Till Meyer, Fritz Teufel, Andreas Vogel und Ralf Reinders. Ralf Reinders wird zu 15 Jahren Haft verurteilt und am 14. September 1990 aus dem Moabiter Knast in Berlin entlassen. Er lebt in Berlin und bewegt sich in der radikalen Linken dieser Stadt.

Buchveröffentlichung: „Die Bewegung 2. Juni“ Gespräche über Haschrebellen, Lorenzentführung, Knast; Ralf Reinders / Ronald Fritzsch; Edition ID-Archiv, Berlin/Amsterdam 1995


Stefan Wisniewski

Stefan Wisniewski war bis zu seiner fristlosen Entlassung 1981 Teilzeitkünstler in der RAF, danach Knast-Überlebenskünstler. Zuletzt als Gast bei einer Gegen-Führung in der KW RAF-Ausstellung. Weitere biografische Angaben in „Wir waren so unheimlich konsequent“, Ein Gespräch zur Geschichte der RAF, ID-Verlag 2001; Terz Interview vom Juli/August 2000 mit Klaus Viehmann „In Hinsicht auf die Linke vergisst der deutsche Staat nichts“.

Politisch ist er weiterhin in den sozialen Auseinandersetzungen und in der radikalen Linken unterwegs, in der antirassistischen und antifaschistischen Bildungsarbeit tätig und auch gegen die alte und neue Knastindustrie aktiv; diverse Veranstaltungen zur selbst-kritischen Reflektion der Geschichte des bewaffneten Kampfs in den 70iger Jahren. Er findet Traditionspflege – wie das 48. Gebirgsjägertreffen an Pfingsten in Mittenwald (eine Täterschutzgemeinschaft von alten und jungen Nazis, Ritterkreuzträgern und Bundeswehr) – angreifbar und so weiter und sofort.


Thomas Giefer

Thomas Giefer wird 1944 auf der Insel Reichenau geboren. 1964 beginnt er mit dem Studium der Publizistik und Literatur in Frankfurt/Main und Berlin. Die ersten sit ins und Demonstrationen begleitet er mit seiner kleinen Filmkamera mit Handkurbel. Nach der Demonstration gegen den Schah am 2. Juni 1967 und der Ermordung Benno Ohnesorgs stellt er das Filmmaterial dem studentischen „Ermittlungsausschuss“ zur Verfügung und reist gemeinsam mit Hans-Rüdiger Minow durch die BRD, um die Studierenden über die Ereignisse aufzuklären. Anschließend entsteht daraus ein dokumentarischer Film. Ab Ende 1967 gehört Thomas Giefer zum zweiten Jahrgang der 1966 gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb). Dem politischen Zeitgeist entsprechend wird die Hochschule häufig zur Produktionsbasis für Agitations- und Propagandafilme umfunktioniert. Giefers Jahrgangsfilm „Terror auch im Westen“ setzt sich mit der extremen Polarisierung zwischen politisierten Studenten und „normaler“ Bevölkerung auseinander – gipfelnd im Attentat auf Rudi Dutschke und den anschließenden Anti-Springer-Aktionen. Nach der Besetzung der Akademie kommt es im November 1968 zum Rausschmiss von 18 dffb-Studierenden. Es werden fast der komplette erste Jahrgang (darunter Holger Meins, Werner Sauber und Hans-Rüdiger Minow) und einige aus dem zweiten Jahrgang, wie Thomas Giefer relegiert.

1968 ist Thomas Giefer Mitbegründer des „Rosta Kinos“ (Rotes Arbeiter und Studenten Kino) in Charlottenburg, wo politische Filme gedreht und gezeigt werden.

Ab 1974 fängt er an, Dokumentarfilme für das Fernsehen zu drehen, sein Schwerpunkt sind Auslandsreportagen aus Afrika, Asien, Lateinamerika sowie politische und sozialkritische Dokumentationen. Zahlreiche Festivals, nationale und internationale Preise.

Filme (Auswahl):
„Schah Matt“ über die Revolution im Iran (1981)
„Die Kurden – Ein Volk, das es nicht geben darf“ (ZDF, 1983)
„Operation Ernte – Chronik eines Putsches in Afrika“ mit Jürgen Roth (ZDF, 1987)
„Was geschah wirklich in Upington?“ Reportage aus dem Apartheidstaat SA (1989)
„Die Rattenlinie“ Fluchtrouten der Nazis (Als Buch bei Beltz/Athäneum) (1990)
„Die Macht, das Öl und der Tod – Ken Saro Wiwa“ Die Ermordung des nigerianischen Schriftstellers und Umweltaktivisten (1996)
„Tod in Memphis – Der Mord an Martin Luther King“ (1998)
„Mord im Kolonialstil – Patrice Lumumba“ (Als Buch bei Ullstein) (2000)
„Der Bürgermeister, der Entertainer, der Raumausstatter und seine Frau – Wahlkampf in Berlin“ (2001)
„Romero – Tod eines Erzbischofs“ Terror von Todesschwadronen und Rolle der USA (2003)
„Tod in Teheran – Auftragsmord im Namen Gottes“ Der iranische Geheimdienst und der Fall Foruhar (2005)
Referenten die ihre Teilnahme leider Absagten
Hans-Rüdiger Minow

Hans-Rüdiger Minow wird 1944 in Bad Schwalbach (Hessen) geboren und wächst in Westberlin und Darmstadt auf. Sein Abitur macht er an der Ranke-Oberschule in Berlin-Wedding. Von 1963 bis 1968 studiert er in Tübingen (Philosophie, Geschichte), in Paris und in München (Theaterwissenschaften). Im Kibbuz Adamit in Israel ist er als Farmarbeiter tätig. Ein weiterführendes Studium macht er an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb), von der er – zusammen mit 17 Studierenden, unter ihnen auch Thomas Giefer – wegen politischer Proteste gegen die Notstandsgesetze verwiesen wird. Von 1969 bis 1971 ist er Industriearbeiter in Westberlin. Ab 1972 bis 1975 dreht er Filme aus und über Vietnam.

Von 1976 bis 1982 ist Hans-Rüdiger Minow als Dokumentarist, Drehbuchautor und Publizist tätig. Seit 1983 ist er Autor, Regisseur und Produzent zahlreicher Dokumentationen unter anderem in Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Russland und Syrien.

Eine Filmographie und eine Sammlung der Texte und Bücher, die Minow veröffentlicht hat, ist unter folgender Adresse zu finden: www.minow-film.com.


Heinrich Hannover

Am 31. Oktober 1925 in Anklam (Vorpommern) als Sohn eines Arztes und seiner Ehefrau, einer Lehrerin, geboren. Als einziges Kind behütet und glücklich aufgewachsen. Schulbesuch: mühelos aber ungern. Ohne Begeisterung in der Hitler-Jugend. Um die Voraussetzungen für die Zulassung zum höheren Forstdienst zu erfüllen, mit der Naivität eines 17-jährigen in die NSDAP eingetreten. Ebenfalls mit 17 zum Reichsarbeitsdienst und dann zur Wehrmacht eingezogen. Von August 1943 bis Mai 1945 Soldat, Fronteinsätze, Verwundung, kurze amerikanische Kriegsgefangenschaft. Rückkehr aus dem Krieg als Pazifist und lebenslang entschiedener Kriegsgegner.

Sehr bewusster Neuanfang 1945: Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus! Meine Eltern hatten Anfang Mai 1945 nach dem Einmarsch der Roten Armee ebenso wie 600 weitere Anklamer den Freitod gewählt. Mein Elternhaus und das elterliche Vermögen wurden von der Besatzungsmacht enteignet. Ich wohnte zunächst bei Verwandten in Kassel. Abitur nachgeholt. Vergebliche Bemühungen, in den hessischen Forstdienst übernommen zu werden (ich war in Pommern für die höhere Forstlaufbahn zugelassen gewesen), sieben Monate Waldarbeitertätigkeit. Dann entschlossen, Jura zu studieren. Studium in Göttingen als Werkstudent, 1950 mit dem 1. Staatsexamen abgeschlossen.

Referendarzeit in Bremen. 2. Staatsexamen 1954. Seit Oktober 1954 Rechtsanwalt in Bremen. Ehrendoktor der Humboldt-Universität Berlin (1986) und der Universität Bremen (1996).

Berufliche Tätigkeit vorwiegend als Strafverteidiger und als Vertreter von Kriegsdienstverweigerern. Als Verteidiger auch in politischen Strafsachen tätig: in den 50er und 60er Jahren in Prozessen gegen Kommunisten und andere Oppositionelle; in den 60er und 70er Jahren in Prozessen gegen Angehörige der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Opposition (zum Beispiel Daniel Cohn-Bendit); in den 70er und 80er Jahren in so genannten Terroristenprozessen (zum Beispiel Astrid Proll); Nebenklagevertretung im Thälmann-Mordverfahren, Verteidigung von Demonstranten (Sitzblockaden) gegen das amerikanische Raketendepot in Mutlangen; 90er Jahre Verteidigung von DDR-Bürgern gegen die neue Kommunistenverfolgung (zum Beispiel Dr. Hans Modrow).

Aus meiner Ehe mit Elisabeth Hannover-Drück sind sechs Kinder hervorgegangen. Das jüngste ist 1969 im Alter von sieben Jahren an Leukämie verstorben. Fünf Enkelkinder. Seit 1982 wohne ich mit meiner jetzigen Lebensgefährtin Doris Wegener in Worpswede.

Politische Aktivitäten: Viele Jahre in den Kriegsverweigererverbänden, in der Ostermarschbewegung, in der APO (gegen Vietnamkrieg und andere Staatsaktionen), gegen Atomwaffenversuche und Atomkraftwerke (wie viele Kinder müssen noch an Leukämie sterben?), gegen KPD-Verbot und gegen Berufsverbote.

Buchveröffentlichungen (Auswahl):
Autobiografie: „Die Republik vor Gericht – Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts“ (1. Band 1954 bis 1974, 2. Band 1975 bis 1995)
Kinderbücher: „Das Pferd Huppdiwupp“, „Der müde Polizist“, „Die untreue Maulwürfin“, „Was der Zauberwald erzählt“.


Karl Heinz Roth

Am 27. Mai 1942 fährt der Chef des Reichssicherheitshauptamtes und seit September 1941 zugleich amtierende Reichsprotektor im „Protektorat Böhmen und Mähren“, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, in einer offenen Limousine von seinem Landsitz in Brzezany nach Prag hinunter. Ausgangs der Haarnadelkurve bei Liben trifft ihn um 10.30 Uhr die Granate tschechischer Widerstandskämpfer.

An jenem 27. Mai 1942 wird Karl Heinz Roth im fränkischen Wertheim geboren. Er hat das zufällige Zusammentreffen beider Ereignisse bewusst aufgenommen und als Verpflichtung empfunden, der er als Politiker des SDS, der APO und des Operaismus wie als Historiker nachgekommen ist.

Karlo Roth ist der Sohn eines Polizeimeisters und einer Näherin. Obwohl er in den Ferien als Hilfsarbeiter auf dem Bau arbeitete, machte er 1961 das Abitur, wie er es ausdrückt, auf Kosten seiner drei Schwestern. Vor dem Studium ging er zur Bundeswehr, zur Luftwaffe – freiwillig. Was er hier erlebte, führte zum ersten politisch bewussten Schritt seines Lebens, er verweigerte das Gelöbnis - und wurde zu einer Sanitätseinheit strafversetzt. Das hinderte ihn nicht, dort weiter offen gegen eine deutsche Atombewaffnung zu agitieren.

Beim Medizinstudium ab 1962, zuerst in Würzburg, dann in Köln, fand er die gleiche nazistische Kontinuität wie bei der Bundeswehr. Rühmten sich ehemalige Nazioffiziere ihrer „Heldentaten“, so Massenmörder in Weiß ihrer Menschenversuche. Roth wuchs in die Studentenbewegung hinein, kämpfend gegen Notstandsgesetze und den Indochinakrieg der USA. Er wurde Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund und im SDS-Bundesvorstand dessen „Notstandsreferent“. Als Werkssanitäter der Kölner Ford-Werke gewann er Erfahrungen über die konkrete Situation der Arbeiter im Betrieb, die prägend bleiben für alle späteren Arbeiten zur Arbeitergeschichte.

Roth setzte 1967 sein Medizinstudium in Hamburg fort. Die dortige Universität war eine Hochburg der APO und des SDS, und er wurde rasch einer der führenden Vertreter des Hamburger SDS. Von der Polizei mit Haftbefehl bedroht, entzog er sich demonstrativ der Verhaftung und lebte, unterstützt vom SDS und öffentlich auftretend, ein Jahr illegal in Hamburg. Als junger Arzt machte Roth eine „bittere Lehrzeit“ durch, als er nach dem Massaker des „Schwarzen September“ 1970 dem Aufruf des Palästinensischen Roten Halbmondes folgte und in Jordanien und im Libanon in den Flüchtlingslagern medizinische Hilfe leistete.

Ein weiteres chirurgisches Assistenzjahr führte ins katholische St.-Vinzenz-Hospital in Köln. Hier geriet er als Fahrer eines Wagens zusammen mit zwei von der Polizei gesuchten Personen in eine Kontrolle. Es kam zu einer Schießerei, bei der das Mitglied der Bewegung 2. Juni Werner Sauber von der Polizei erschossen und Karl Heinz Roth, der nicht geschossen hatte, durch Brust- und Bauchschüsse schwer verletzt wurde. Ein Polizist wurde getötet, ein zweiter verletzt. Die Medien reagierten mit einer hysterischen Kampagne: Roth sei der Kopf des „2. Juni“, der Arzt mit den zwei Gesichtern, tagsüber Chirurg, nachts Terrorist. Die Justiz klagte ihn wegen vollendeten und versuchten Mordes an. Aufgrund unterlassener bzw. verzögerter oder verweigerter medizinischer Behandlung schwebte Roth immer wieder in Lebensgefahr. Der Bundesanwaltschaft galt er als Terrorist, den Vollzugsbeamten als Polizistenmörder.

Nur die öffentliche Empörung über seine Haftbedingungen zwang die Justiz, ihm in letzter Minute die erforderliche medizinische Behandlung zuzugestehen. Im Prozess 1976 musste er von der Anklage freigesprochen werden. Dank seiner Disziplin, Willensstärke und der erlebten Solidarität, aber auch dank seiner Fähigkeit zur medizinischen Selbstdiagnose überlebte Karl Heinz Roth psychisch ungebrochen; die körperliche Schäden aber waren irreversibel und führten später zur frühen Invalidisierung.

Roth hatte sich nach Freilassung und Genesung in Hamburg als Arzt niedergelassen – und studierte neben der ärztlichen Arbeit Geschichte. Die außerparlamentarische Linke differenzierte sich in den 70er Jahren außerordentlich, Roth hat sich laufend mit ihren Entwicklungen auseinandergesetzt. In Distanz sowohl zur „offiziellen Arbeiterbewegung“ als auch zu den meisten Neugründungen der APO, orientierte er sich Mitte der 70er Jahre am anarchistischen Flügel und gründete mit anderen die Zeitschrift Autonomie. Er kritisierte die Kommerzialisierung der alternativen Projekte ebenso wie die zentralistischen Neugründungen. Der italienische Operaismus wurde für Jahre seine Richtung. Nach dem „deutschen Herbst“ 1977 scheute Roth sich nicht, zu den Auseinandersetzungen um die RAF öffentlich Stellung zu nehmen, deren Leistung historisch zu würdigen und deren Irrweg selbstkritisch nicht nur als ihre Schuld zu begreifen. Seine Bemühungen, zu einer politischen Standortbestimmung der Linken beizutragen, stellten immer auch neue Herausforderungen dar; die theoretisch provokativsten Ansätze waren wohl 1974 „Die andere Arbeiterbewegung“ und 1993/94 „Die Wiederkehr der Proletarität“.

Karlo Roth arbeitete über Jahrzehnte parallel als praktischer Arzt und als Wissenschaftler. Erst relativ spät wurde er zum professionellen Historiker, heute gehört er zu den besten Sozialhistorikern des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache. Auch wenn die „Historikerzunft“ das nicht wahrhaben will, so gehören seine Dokumentationen und Monographien zu den unhintergehbaren Standardwerken, seine quellengestützten Resultate sind zwar totzuschweigen, aber nicht aus den Angeln zu heben. Seine Themen hat Karl Heinz Roth oft über Jahrzehnte verfolgt, immer wieder aufgegriffen und auf neuer Forschungsgrundlage neu untersucht. Man könnte sie in fünf große Komplexe gliedern: die Sozialgeschichte des deutschen Faschismus, die Vernichtungspolitik des deutschen Faschismus und deren biologisch-medizinische Zusammenhänge, die Arbeiterbewegungsgeschichte, die Planungsgeschichte der Liquidierung der DDR und die Wissenschaftsgeschichte, insbesondere der Medizin.

Wohl kein Buch löste innerhalb der Linken so heftige Kontroversen aus wie die „andere Arbeiterbewegung“ von 1974. Sie wollte keine Geschichte der organisierten Arbeiterbewegung sein, sondern eine der nicht-organisierten Arbeiter und ihrer Verhaltensweisen, eine Geschichte ihrer Kämpfe vom Standpunkt der Arbeiter. Obwohl auf einer nicht ausreichenden Materialbasis, ging es in dieser Arbeitergeschichtsschreibung darum, erstens die materiellen Existenzbedingungen in Fabrik und Gesellschaft zu analysieren und zweitens die Organisationsstruktur der Arbeit selbst. Aus der These vom unqualifizierten Massenarbeiter – der Prototyp ist der Fließbandarbeiter der Autowerke der 60er Jahre –, der seiner Arbeit völlig entfremdet sei, sich mit deren Inhalten überhaupt nicht mehr identifiziere, zog er den Schluss, gerade deshalb sei er radikal, begehre gegen die Arbeit selbst auf und entwickle neue Protestformen. Das Versanden im Opportunismus und schließlich das Scheitern der organisierten Arbeiterbewegung sei wesentlich daraus abzuleiten, dass sie vom Facharbeiter aufgebaut worden und auf ihn politisch orientiert sei. Von daher bestimmt Roth den für ihn zentralen Begriff der Arbeiterautonomie als Unabhängigkeit nicht nur gegenüber den Unternehmern, sondern auch den Gewerkschaften und Parteien. Diese Thesen provozierten alle Fraktionen der Linken. Auch wenn er später manche Schwächen dieses Buches sah und überwand, geblieben sind ihm die Sympathie für die untersten Schichten der Ausgebeuteten und Erniedrigten und die Überschätzung ihrer Bewusstheit und der Kraft ihres spontanen Widerstandes.

Aus dem 1983 gegründeten „Verein zur Erforschung der nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik“ entwickelte sich schließlich die „Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts“, die heute in Bremen sitzt und Arbeitsgrundlage und Rahmen für die meisten sozialhistorischen Forschungen und Editionsprojekte von Karl Heinz Roth bildet. Sie gibt die stiftungseigene Zeitschrift 1999 heraus, das seit Jahrzehnten für ihn wichtigste Publikationsorgan.

Eine wissenschaftliche Festschrift hat Karl Heinz Roth schon zum 50. Geburtstag erhalten. Trotz Invalidisierung hat er die Bilanzierung jahrzehntelanger Forschungen in seinen „großen“ Werken noch vor sich. Wünschen wir ihm dafür Kraft und ausreichende Gesundheit – zunächst für die unter der Feder befindliche Papen-Biographie und sein Buch über die Luftfahrtmedizin im Nazireich.


Wolfgang Dreßen

Wolfgang Dreßen wird 1942 in Düsseldorf geboren. Sein Abitur macht er 1964 in Krefeld. Von 1964 bis 1968 studiert er in Tübingen und in Berlin (Philosophie, Geschichte). Engagement bei den „Situationisten“ in Tübingen und im SDS (Berlin), undogmatischer Flügel. Zwischen 1968 und 1977 Arbeit als Lektor und Autor im Verlag Klaus Wagenbach (Rotbücher, Reihe Politik ). Mitarbeit in der Zeitschrift „883“. Seit 1978 Arbeit als Taxifahrer. 1982 Promotion („Die pädagogische Maschine“) bei Jacob Taubes. Zwischen 1982 und 1994: Mitarbeiter im Museumspädagogischen Dienst Berlin, Mitherausgeber der Zeitschrift „Niemandsland“, Ausstellungen zur jüdischen Geschichte, zur Geschichte der Revolte („Nilpferd des höllischen Urwalds“). Seit 1994 Professor für Politik an der FH Düsseldorf und Leiter der Arbeitsstelle Neonazismus. Forschungen, Tagungen und Ausstellungen zur Geschichte der Arisierung, zur Fremdwahrnehmung und zur Ökonomisierung von Wissenschaft und Bildung im Neoliberalismus.

Seit 1968: Veröffentlichungen zur Geschichte und Gegenwart der Disziplinierung. Aktuelles unter: www.arbeitsstelle-neonazismus.de